Zurück zur Geschichtenauswahl
Das Erbe von Hutzenhag
Inaka Novelle - Das Erbe von Hutzenhag
Die folgende Novelle ist rein fiktiv. Falls sich Namen oder Handlungselemente mit Personen oder Ereignissen aus der echten Welt überschneiden, ist dies reiner Zufall.
Szene 1 - Auf der Burg
Im Königreich Hutzen-West, mittig des Landes Neu Taurillia, dem Land der Menschen, auf einem schneebedeckten Berg, lag eine Burg. Die Burg des Königs.
Während die Bediensteten dabei waren, alles für die anstehenden Winterfestspiele vorzubereiten, standen Kronprinz Volker und seine Schwester, Prinzessin Adelheid im großen Saal und sahen zu, wie Tische gestellt, Banner aufgehangen und Dekoration aufgebaut wurden. Die beiden waren zwei der drei Kinder des Königs Hagen von Hutzen. Ein König, tapfer und herzensgut. Der andere Sohn Hagens war Waldemar. Er und Hagen hielten sich nicht in der Burg auf, denn sie befanden sich gerade auf dem Schiff der Familie.
Adelheid blickte aus dem Fenster des Saals und sah zu, wie sich eine Schneeflocke an die Scheibe setzte.
“Volker?”, fragte Adelheid und schaute zu ihm. “Volker, das werden die ersten Festspiele ohne Mutter.” Sie senkte ihren Blick.
“Ich weiß noch, wie sie jedes Mal selbst die Tische arrangiert hat.”
“Ja - als wäre es gestern gewesen. Sie hat immer gesagt, die Winterfestspiele seien die Zeit, in der das Volk uns am meisten braucht. Ich hoffe, Vater und Waldemar schaffen es rechtzeitig zurück.” Der Kronprinz blickte aus dem Fenster. Er sah hinunter, zur Stadt. Die Dächer waren mit Schnee bedeckt und aus den Schornsteinen stieg Rauch, alles wirkte so friedlich.
“Sie sind schon ziemlich lange weg. Eigentlich wollten sie gestern schon wieder da sein, ich hoffe es ist ihnen nichts passiert.” Kurz waren beide still.
“Vater hat schon schlimmere Reisen überstanden. Mach dir keine Sorgen”, Volker legte seine Hand auf die Schulter seiner Schwester.
Szene 2 - Das Schiff der Familie
Währenddessen auf hoher See, auf dem Schiff, im Quartier des Königs, saßen Waldemar, sein Vater König Hagen und der Hofritter Gerold von Glanztal. Hagen und Waldemar spielten Schach.
“Wieder der Turm, Vater? Du spielst, als hätten wir Zeit.”
“Strategie mein Sohn. Es ist wie im echten Leben. Es braucht Planung, nicht Zeit.” Waldemar setzte eine seiner Bauernfiguren direkt in die Falle, wo mehrere von Hagens Figuren ihn schlagen könnten. “Weißt du mein Sohn, viele sagen immer, die Bauern seien die schwächsten im Spiel. Austauschbar. Ersetzlich.”
“So ist es ja auch Vater, sie schützen die wichtigen Figuren, auch wenn man sie dafür opfern muss.” Waldemar grinste, während Hagen eine Augenbraue hob und einen seiner Bauern dem Gegnerischen gegenüberstellte. Er lehnte sich zurück.
“Da liegt der Fehler, Sohn. Du unterschätzt die Bauern. Sie halten das Königreich zusammen, im Schachspiel wie im echten Leben. Ohne die einfachen Leute ist der König verwundbar. Man sollte sie nur opfern, wenn es gar nicht anders geht”, Waldemar lachte.
“Ungewöhnliche Strategie. Aber Schach ist doch ein Spiel des Opferns, nicht wahr?” Hagen schaute seinen Sohn ernst an.
“Nein. Es ist ein Spiel des Denkens. Des Lebens. Und manchmal des Verzichts. Merk dir das mein Sohn: Ein König, der die Bauern leichtsinnig opfert, der verliert bald alles.”
Waldemar wollte antworten, aber plötzlich hörten sie Geschrei und Krach vom Deck. Der Ritter Gerold griff sofort sein Schwert und ging an Deck. König Hagen ihm hinterher. Waldemar stand ebenfalls auf, aber sein Vater hielt die Hand vor ihn.
“Bleib hier, Waldemar. Das ist nichts für Prinzen”,
“Ich werde nicht zusehen, wie unsere Leute für uns sterben!”
Er ging mit hinaus. Auf Deck herrschte Chaos. Fremde. Plünderer. Piraten! Das Schiff wurde Überfallen. Gerold kämpfte gegen einige der Angreifer. Einer der Bediensteten warf Hagen ein Schwert zu und er stellte sich auch den Plünderern. Waldemar befahl er noch, mit den Bediensteten ein Beiboot vorzubereiten, als letzte Option. Die Räuber waren in der Überzahl. Viele waren schon dabei, die Wertsachen zu holen. Waldemar rief noch nach seinem Vater, dass das Boot bereit ist, da sah er es. Hagen, der König von Hutzen-West, wurde von einem Schwert durchbohrt. Das Schwert ragte aus seiner Brust. Aus seiner Brust ragte es hinaus. Ein leeres Krächzten kam noch aus seinem Hals und er sackte zusammen. “VATER!”, schrie sein Sohn, während Gerold dem Königsmörder mit einem Lauten Schrei den Kopf abschlug. Jetzt fiel Waldemar auf, dass das Schiff in Flammen stand. Der Hofritter rannte auf den erstarrten Prinzen zu, packte ihn und sprang mit ihm aufs Beiboot. Vier weitere Bedienstete der Familie konnten sich auch noch auf das Boot retten. Gerold ruderte um das Leben aller an Bord und konnte es schaffen. Aus der Ferne sahen sie zu, wie das Schiff, auf dem sie eben noch standen, sank. Das Meer verschluckte das flammende Schiff, während das Schiff der Piraten in die entgegengesetzte Richtung davonfuhr. Waldemar sah nicht hin, er starrte nur das Schwert des Hofritters an, an dem immer noch das Blut des Mörders seines Vaters klebte. Er redete kein Wort mehr.
Szene 3 - Hof der Burg
Adelheid war gerade draußen und beobachtete, wie die Bediensteten die Tribüne für den Tjost aufbauten, da sah sie, wie eine Kutsche zur Burg hochfuhr. Der Schnee blendete sie, aber sie erkannte, dass der Hofritter Gerold in der Kutsche saß. “Hol schnell Volker”, sagte sie zu einer ihrer Zofen. Die ging sofort los und eilte durch die großen Korridore der Burg. Als sie mit dem Kronprinzen draußen wieder ankam stand die Kutsche schon im Hof. Adelheid auf Knien zusammengesackt und Waldemar und Gerold beide blass und nass, Gerold noch mit Blut beschmiert. Ein Diener kam und verteilte Decken an die Schiffsbrüchigen.
”Was ist passiert? Wo - wo ist Vater?” Volker ahnte bereits das Unheil.
”Wir wurden angegriffen… von Plünderern.” Waldemar schluckte und sein Blick wurde ernster. “Und Vater, Vater ist gestorben. Ich… Ich…” Gerold ging einen Schritt vor und nahm Haltung an. Seine Stimme zitterte.
”Es tut mir leid, Eure Hoheit. Wir haben alles versucht, aber es waren zu viele. König Hagen hat bis ans Ende tapfer gekämpft.” Adelheid schrie. Volker wusste nicht wie ihm geschah. Er war der Kronprinz, der Erbe des Königs. Neben der Trauer über den Verlust seines Vaters überkam ihn auch eine riesige Angst, vor der Verantwortung, die er bald tragen müsste. Volker verlor eine Träne. “Vater ist gestorben und du bist noch hier. Vater ist gestorben und du hast überlebt!” Waldemars Blick wandelte sich von Trauer in Wut.
”Ich war bis zum Ende bei ihm, ich habe ihn sterben sehen! Wage es dich nicht, mir Vorwürfe zu machen, du warst nicht dabei, Volker!” Waldemar stürmte an Volker vorbei, in die Burg. Volker half Adelheid aufzustehen und nahm sie in den Arm. Er schickte sie hinein und wand sich an den Hofritter.
“Gerold, entschuldigt meinen Ausbruch. Ich bin überwältigt von Trauer und der auf mich zukommenden Verantwortung. Wie soll ich die Krone tragen, wenn ich es nicht einmal schaffe, meine Schwester zu trösten und meinen Bruder im Zaum zu halten?”
Szene 4 - Eröffnung der Winterfestspiele
Am nächsten Morgen, auf dem Balkon der Burg stand Kronprinz Volker von Hutzen vor dem versammelten Volk. Er hielt eine Rede. Keine Trauerrede, sondern die, die sein Vater eigentlich hätte halten sollen. Die Eröffnungsrede der Festspiele. Das Volk war unruhig.
“Der Winter ist eine dunkle Zeit, auch in diesem Jahr werden wir hier für euch Licht im Dunklen und Wärme in der Kälte bereit halten. Viele von euch machen sich in der kalten Zeit sicher viele Sorgen, lasst sie mit uns für ein paar Stunden, Tage, für die nächsten Wochen vergessen und feiert mit uns. Habt Spaß, trinkt und speist. Und damit: Lasst die Festspiele beginnen!” Einige der Bürger jubelten, aber lange nicht so viele, wie sonst, wenn Volkers Vater die Rede hielt. “Wo ist der König?”, rief ein Mann aus der Menge. Der Kronprinz hörte es, entschied sich aber es zu ignorieren und den Balkon zu verlassen. Barden begannen zu musizieren und Marktstände eröffneten.
Während draußen das Fest begann und seinen Lauf nahm, saß Waldemar in seinen Gemächern. Zermartert von Gefühlen der Trauer und der Reue kam Wut in ihm auf.
“Ich war der Letzte, der bei ihm war. Volker hat es nicht verdient, sein Nachfolger zu werden.”
Er ballte seine Hände zu Fäusten.
“Mir hat Vater beigebracht, wie man das Volk führt. Wie ein König zu sein hat!” Er schaute das an seiner Wand hängende Schwert an. In diesem Moment kam Gerold hinein.
“Eure Hoheit, ich wollte nach Euch sehen. Wie geht es Euch?” Gerold stand gerade und stramm.
“Lass die Haltung.” Waldemar machte ein Handzeichen. “Ich- ich trauere. Aber nicht nur das. Ich bin wütend, wütend auf Volker. Ich finde, er hat den Titel als Vaters Nachfolger nicht verdient. Er war nicht dabei, als er starb. Ich schon. Ich spielte mit ihm sein letztes Spiel, mir gab er seine letzte Lektion. Ich sollte König werden! Volker blamiert uns alle, indem er jetzt das Fest eröffnet, das müsste Vater machen - oder eben ich. Er blamiert damit mich, meine Schwester - auch Dich, Gerold. Er blamiert unser ganzes Geschlecht. Außerdem hat er mich vor Adelheid und dir Bloßgestellt, als hätte er Vater retten können! Ich bin der rechtmäßige Erbe!” Der Hofritter legte seine Hand auf die Schulter des Prinzen.
“Ich weiß nicht, ob das ist, was Euer Vater gewollt hätte. Denkt daran, was er beim Schachspiel zu Euch sagte”, Waldemar stieß Gerolds Hand von sich.
“Stell Du Dich nicht auch noch gegen mich!” Er zeigte in Richtung der Tür. “Verlasse diesen Raum!” Gerold nahm wieder Haltung an und ging hinaus.
Szene 5 - Im Saal der Burg
Im großen Saal waren alle Vorbereitungen getan, keine Menschenseele war noch dort - außer Volker. Die Tische waren eingedeckt für ein reiches Essen mit den Rittern, Grafen und Bürgermeistern des Reiches. Der Kronprinz stand am Fenster und sah zu, wie das Volk feierte. Melancholisch dachte er an vergangene Jahre, vergangene Festspiele, mit seinem Vater, mit seiner Mutter. Er schaute die Banner an, die das Wappen seiner Familie zeigten. Ein Wappen, das er nun repräsentieren müsste. Die Lilie Inakas auf einem blauen Schild geziert von zwei Schwertern und einem Helm auf einem roten Banner. Er dachte über seine anstehende Krönung nach. Immer dachte er, dass dies ein freudiger Tag werden würde. Doch jetzt, als es bald soweit war, ängstigte ihn die Vorstellung. Seine Verantwortung war er vollen Maßes bewusst - doch kam sie so plötzlich.
Da betrat Waldemar den Saal.
”Waldemar, wo warst du solange? Es tut mir leid, dass ich gestern meine Stimme so gegen Dich erhoben habe. Ich war überwältigt von den Emotionen und der Verantwortung, die jetzt auf mich zukommt.” Waldemar kam näher zu Volker. Dieser schwieg. “Ich dachte gerade an meine anstehende Krönung.” Waldemar nahm seine Arme hinter den Rücken.
“Du wirst nicht gekrönt werden.”
Volker schaute verdutzt. “Wie meinst du das?”
“Ich habe es verdient, König zu werden! Ich war der Letzte, der bei Vater war! Ich habe ihn sterben sehen! Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt!”
Volkers blick verdunkelte sich. “Ich weiß, du bist aufgebracht, aber dieser Thron ist seit meiner Geburt für mich vorgesehen!”
Waldemar holte zum Schlag aus und traf Volker mitten ins Gesicht. Volker stolperte zwar etwas, holte aber sofort aus und traf seinen Bruder mit voller Wucht. Waldemar und Volker gelangen beiden viele weitere Treffer. Faust in den Bauch. Faust auf die Nase. Beide bluteten im Gesicht. Waldemar wurde immer wütender und Volker immer defensiver. Er wollte seinem Bruder eigentlich nichts tun.
“Hör auf, Vater hätte das nicht gewollt!”, schrie Volker, die Augen weit aufgerissen. Waldemar griff nach einem Schwert, das an der Wand hing. Das dekorative Schwert rammte er seinem Bruder in die Schulter. Volker keuchte auf, als der kalte Stahl in ihn eindrang, seine Beine gaben nach und er ging zu Boden. Er sah zu Waldemar. Seine Augen suchten nach dem Bruder, den er einst liebte. Doch da war nur ein Fremder. Ein Mörder. Ihm entkam ein letztes: “Frevler!” und dann schloss er seine Augen für immer. Waldemar hatte jetzt nicht nur seinen Vater verloren, sondern auch seinen Bruder. Nein, nicht verloren. Getötet. Ermordet.
Er hatte, was er wollte, der nächste in der Thronfolge war er, doch war er von Schuld geplagt. Blut tropfte von seiner Klinge. Während Waldemar sich in seiner Schockstarre befand kam eine Dienerin in den Saal.
“Kronprinz Volker, der Tjost startet gl-”, sie sah den Toten und rannte schreiend davon.
Als Waldemar wieder die Kontrolle über seinen Körper hatte, ließ er das Schwert los. Es fiel scheppernd zu Boden. Er ging wie in Trance hinaus. Hinaus, um den Tjost, den großen Ritterwettstreit zu eröffnen.
Adelheid war überrascht, dass Waldemar draußen war, um den Tjost zu eröffnen und begab sich in die Burg, um nach ihrem Bruder zu sehen. Im großen Saal angekommen sah sie den Tatort. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme war stumm, wollte weinen, aber ihre Augen blieben trocken. Hofritter Gerold kam in den Saal und hielt sich die Hand vor den Mund. Entsetzt sagte er: “Ich glaube nicht, dass er es wirklich getan hat.”
“Wer? Wer tut sowas?” Adelheid war erschüttert.
“Waldemar… Er hat heute früh erzählt, dass er meint, dass Volker ihn blamiere und dass er König werden solle… Ich habe nicht geglaubt, dass er dafür töten würde” Adelheid nahm sich stumm ein scharfes Messer von einem der gedeckten Tische und ging. Ihr Bruder – Waldemar, seit dem Tod Hagens war er nicht mehr der Gleiche. Ausgetauscht. Sie erkannte ihren Bruder nicht mehr wieder.
Waldemar, der gerade, als wäre nichts gewesen, die Ansprache zum Tjost gehalten hatte, begab sich zurück in die Burg. In einem Korridor begegneten sich Adelheid und er. Adelheid öffnete ihre Arme und ließ sich von ihrem ahnungslosen Bruder umarmen. “Warum Waldemar?” Ihr Herz schlug schneller, Waldemars Atem war ruhig. Aus ihrem Ärmel ließ sie das Messer in ihre Hand gleiten und stach es ihrem Bruder mit einem leisen Schrei in den Rücken. “Für Vater, für Volker!”
Szene 6 - Krönung
Ein paar Wochen später, an einem klaren Wintermorgen schien die Sonne durch die hohen Fenster des Tempels zu Hutzenhag. In dessen Reihen saßen alle wichtigen Leute des Reiches. Die Glocken läuteten. Der Tempel war geschmückt mit den Wappen des Adelsgeschlechts von Hutzen-West, mit Wappen von Inaka und denen von Neu Taurillia.
Vor einem Priester stand Adelheid von Hutzen still. “Mit der Kraft des mir verliehenen Amtes”, sprach der Priester mit tiefer Stimme, “ernenne ich Euch, Adelheid von Hutzen, hiermit zur neuen Königin. Königin Adelheid von Hutzen, die Erste!”
Er setzte die goldene, mit bunten Steinen verzierte Krone auf ihr Haupt.
Posaunen durchdrangen die Stille, der Chor stand auf und sang die Inakanische Hymne:
“Hersch Inaka,
hersch über Meer und Land,
die Viere gaben’s in deine Hand.
Hersch Inaka,
hersch über Meer und Land,
Regiere mit eiserner Hand.”
Adelheid schloss ihre Augen. Sie atmete tief ein, öffnete ihre Augen und atmete wieder aus. Die Königin drehte sich und sah ihr jubelndes Volk. Verantwortung, Verlust, Leere pochten durch ihr Herz. Sie dachte an alle, die sie dieses Jahr verloren hatte. Mutter, Vater, Volker, Waldemar. Sie sah zum Banner mit dem Wappen ihrer Familie. “Ich hoffe, ich mache euch stolz”, murmelte sie.
Eine Novelle von
Jan Mamay
Zurück zur Geschichtenauswahl